Gelebte Macht ist verführerisch; die Versuchung gegenwärtig, jemanden auszunutzen, womöglich jemanden zu benutzen. Wie gut, wenn diese Macht auf ein williges Opfer trifft. Wie gut, wenn Schmerz zu Lust wird, denn wenn dem Schmerz die Lust fehlt, tut er wirklich weh.
Hoffnung verdorrt wie ein Baum in der Wüste, fehlt ihr die Zeit für ihre Erfüllung, und Zeit, der Hoffnung beraubt, ist nur ein finsteres Verlies in der Ewigkeit. So sind sie wie Liebende, die Hoffnung und die Zeit: alleine verloren, gemeinsam unbesiegbar.
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I. Schneewittchen
Ihr Name war Uschi. Sie war groß, natürlich blond und unnatürlich intelligent. Schminke verachtete sie und Nagellack benutzte sie, um Laufmaschen in ihren Strumpfhosen zu verdecken. In einer Zeit, in der die Jungs im Unterricht ihre Fähigkeiten im Öffnen der Büstenhalter der vor ihnen sitzenden Mädels vervollkommnet und ihnen in der Pause an die Brüste gegriffen hatten, war bei ihr wenig zu grapschen gewesen und zu öffnen schon gar nichts. »Schneewittchen«, hatten sie ihr hinterhergerufen, »hinten keinen Arsch, vorne keine Tittchen.« Viel hatte sich seitdem daran nicht geändert.
So in ihren weiblichen Attributen limitiert, hatte sie trotzdem das Beste daraus gemacht. Aus ihren blauen Augen konnten wahlweise Blitze oder die verdorbene Glut der Hölle lodern, ihr breiter Mund konnte wirklich schlimme Dinge sagen, und wer sich ihr in den Weg stellte, musste damit rechnen, sich hinterher wie ein Stück Dreck zu fühlen. Natürlich konnte ihr Mund noch eine ganze Menge mehr, schließlich war sie ja dann doch eine Frau.
Geschieden, mit zwei halbwüchsigen Söhnen und einer Tochter, hatte sie mit siebenunddreißig die Buchhaltung für mehr als fünftausend Arbeiter und Angestellte in einem volkseigenen Betrieb übernommen. Immer in Bewegung, vergaß sie nie einen Gefallen, den man ihr schuldete, ließ niemandem etwas durchgehen, und eine Standpauke von ihr war für das arme Schwein, dem sie ihre knappe Zeit widmete, gewöhnlich ein lebenslaufveränderndes Ereignis.
Gelebte Macht ist verführerisch und so hätte mancher und vielleicht auch manche gerne so einiges mit ihr angestellt, was eher weniger mit Lohnbuchhaltung zu tun gehabt hätte, aber nur, wenn sie gefesselt und geknebelt gewesen wäre.
Beim letzten Mal, an dem sie noch etwas hatte mit sich anstellen lassen, war ihre Tochter gezeugt worden. Seitdem bevorzugte sie es, festzulegen, wann, wo, mit wem und vor allem: wie. Knebel und Fessel brauchte sie dazu nicht wirklich, auch wenn sie nichts dagegen hatte, sofern sie es war, die sie anlegte.
»Du machst mir Lust auf was richtig Schmutziges«, stellte sie fest und rollte sich von ihrem Opfer herunter, das sie erst vor zwei Tagen zu einem Mann gemacht hatte. Er atmete heftig und Schweiß glänzte auf seiner Haut.
»Aber du musst es auch wollen, sonst macht es mir keinen Spaß.« Sie strich ihm mit einem Fingernagel über die Wange. Eine rote Spur blieb zurück. Zärtlichkeit ging anders.
»Was jetzt? Ja oder ja?!«, zischte sie. Zwar hätte sie Widerspruch geduldet - immerhin besaß er einen freien Willen - doch in seinen Augen hatte sie gelesen, dass er nicht einmal protestiert hätte, wenn sie seinen Kopf verlangt hätte.
wow. der text lässt einen wie nach einem guten film zurück. die lakonischen dialoge stehen in hartem gegensatz zu den szenen auf der motorrad-gedanken-jagd. da schnürt es mir den brustkorb enger und enger. am ende das erlösende finale? ganz großes, ehrliches kino!
In der Tat eine außerordentliche Geschichte. Es hat etwas gedauert, bis ich die Puzzleteile zusammenbrachte, aber dann fuhr das Motorrad durch meinen Kopf. Ich werde sie in den nächsten Tagen noch mindestens einmal lesen, und das passiert nicht oft. Leider gibt es nur vier Sterne!
das ist für mich brilliant geschriebener harter Tobak! Ich habe die Story jetzt gleich zwei mal gelesen, beim ersten Mal war ich wohl zu schnell, um die Blicke durch das Schlüsselloch einordnen zu können.
Da rast Du mit uns auf dem Bike durch einen Tunnel wie Du andeutungsweise durch Hartwigs Leben rast. Rasant, gefährlich und doch irgendwie auch kontrolliert, bis er beschliesst, ein letztes Mal zu rasen. Das es dann doch anders kommt ist, wie sollte es anders sein, einer liebenden Frau zu verdanken.
hexlein hat es schon gesagt, BDSM kann (und darf) nicht als Heilmittel gegen eine Depression verstanden werden. Halt geben kann BDSM aber durchaus und auch Hartwig kann man nur wünschen, dass sein Schritt zur Therapie der richtige war und er danach mit Andrea in sein neues Leben zurückkehrt.
was hast du mich gefangen und mir Hartwig lebendig gemacht. Die Wendung zum Schluss hin, die war auf keinen Fall vorhersehbar und lässt mich nicht mit dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit für Hartwig zurück.
Ein kleines Problem hatte ich zu Anfang, als der Bruch kam zwischen, ich nenne es jetzt mal Teil 1 und Teil 2 Deiner Geschichte. Zunächst dachte ich, es wäre eine Episodengeschichte. Dazu passte aber nicht, wie der zweite Teil weiterging. Erst viel später im Text kam ich dahinter, dass der Jüngling und Hartwig ein und dieselbe Person sind.
Angst hatte ich während der rasanten Fahrt. Es hat mir fast den Hals zugeschnürt und doch konnte ich nicht aufhören zu lesen.
Danke für eine großartige Geschichte.
P.S.: kleiner Kritikpunkt noch meinerseits.. BDSM, egal in welcher Form, ist kein Heilmittel für eine Depression. Aber es kann zu einem Fixpunkt im Leben werden, an dem man sich auch festhalten kann.
Wow, die Geschichte berührt mich ganz tief. Sie ist traurig und doch gibt sie Hoffnung. Depression ist oft immer noch ein Tabu Thema, das du hier sehr tiefgründig und mutig beschreibst. Ich bin selber depressiv und nehme seit langem Antidepressiva. Ich kenne solche Gedanken ansatzweise.