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() Platz 4 im »Schreibwettbewerb: Heiß und gefährlich«.
Im Alter von zwölf Jahren hatte Karina begonnen, romantische Geschichten für Erwachsene zu lesen. Sie mochte Romane, die man wie einen Fluss befahren konnte, an dessen Ufern wunderbare Landschaften vorüberzogen. Meist war es so, dass zwei liebende Menschen nach mindestens dreihundert Seiten zueinanderfanden. Das zu lesen tat gut, und wenn die Schule zu Ende war, die Pflichten im Haushalt erledigt, wenn Hausaufgaben gemacht und die sozialen Medien bedient waren, konnte Karina einsteigen in andere Welten, die spannend und voller Konflikt waren, sich aber am Ende des Buches in Liebe und Harmonie auflösten. Gelungen und liebevoll waren die Leben der Menschen im Roman, auf unergründliche Art anders als in der normalen Welt. Bücher wirkten auf Karina stärker, intensiver und schöner als der Alltag, in dem sie lebte.
Sascha war nicht cool. Den meisten seiner Mitschüler gelang es, möglichst hartnäckig zu schweigen, nur in zwingenden Situationen einige Worte hervorzupressen und auf diese Weise den Anschein zu erwecken, über den Dingen zu stehen. Wer sprach, konnte etwas Falsches sagen, über das geredet, im schlimmen Fall gespottet wurde. Sascha hatte nichts zu sagen. Zu was auch? Er interessierte sich nicht für angesagte Dinge, trug keine Kleidung, die man anzog, um dazuzugehören, empfand soziale Medien als lästige Beschwernis und zeitraubend. Er las, aber nicht Geschichten von Jungsbanden oder abenteuerliche Chroniken, sondern Bücher, in denen Helden durch schwierige Zeiten gingen, Leid und Elend erlebten und am Ende ihren Kampf gegen die Widrigkeiten des Schicksals und schlechte Menschen gewannen. Literatur war wie eine Decke, unter der Sascha vor seiner äußeren Welt abtauchen konnte.
Karina fand als Kind keinen Zugang zu häufig wechselnder Mode. Markenjacken und angesagte Schuhe besaßen für sie keine Bedeutung. Mit zehn Jahren schaute sie politische Sendungen, betrachtete die Welt außerhalb des Dunstkreises ihrer Schule. Als Vierzehnjährige rechnete sie sich aus, dass auf jeden durchschnittlichen Deutschen im Weltmaßstab zwanzig Menschen kamen, denen es wesentlich schlechter ging. Der Wert besonderer Kleidung und weshalb der Kaufpreis neuester Handys das Ansehen seines Besitzers steigern sollte, entzog sich ihrem Verständnis. Nur eine Sache gab es, die sie trotz Hungerkatastrophen, Krieg und Krisen interessierte. Was sie über BDSM las, reizte sie. Dort lag etwas Stärkeres als die Traurigkeit und Menschenverachtung der Welt. Wenn sich Karina in die Welt von Dominanz und Submission hineinträumte, trat die Banalität des Alltags zurück und die Unzulänglichkeiten der Menschheit verschwanden. Es war, als stünde sie unter dem Schutz eines Schirmes, der die Welt mit ihren Gemeinheiten fernhielt. Sie fand Seiten im Internet, auf denen man besondere Kleidung kaufen konnte, las SM-Geschichten und Erfahrungsberichte. Und sie kaufte sich Dinge, die zur Welt der Dominanz und Submission gehörten. Wie fühlte sich ein Korsett an und konnte man in diesen engen, hochhackigen Stiefeln tatsächlich gehen, ohne zu stürzen?
Sascha mochte keine Uniformen, auch nicht im Denken, denn eine Uniformierung des Körpers ging meist mit einer Uniformierung des Geistes einher. Zwänge hasste er und versuchte, jeder Reglementierung aus dem Weg zu gehen. Aber ständig gab immer irgendjemand vor, was im Moment immens wichtig war und dann wurde es von einer Herde Lemminge umgesetzt. Am Ende trugen alle dieselben Klamotten und hörten die gleiche Musik.
Ekelhaft empfand Sascha das Talent vieler Mädchen, andere Menschen nicht wahrzunehmen. Sie konnten, wenn er ihnen begegnete, mit einem unfassbar stumpfen Blick durch ihn hindurchschauen. Manchmal hatte Sascha das Gefühl, es gab einen geheimen Wettbewerb, bei dem sich junge Frauen bemühten, den bestmöglich uninteressierten und überheblichen Gesichtsausdruck aufzusetzen. In solchen Momenten wünschte sich Sascha die Macht, so einem Mädchen die Kleider fortzuzaubern, und stellte sich das plötzliche, entsetzte Erwachen ihres Blickes vor, nackt in der Fußgängerzone, von den Passanten angestarrt. Und dann, wenn sie verzweifelt ihre Arme vor den Körper nahm, um Brust und Scham zu bedecken, kam er als Retter mit einem Mantel, um die eingebildete Schönheit vor den Blicken der Welt zu schützen und sie später bei sich, wenn er ihr den Mantel wieder abgenommen hatte, in einer Form zu bestrafen, die sie ihm gern zugestand, gleichermaßen fürchtete und herbeisehnte.
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